„Sky“ is the limit – über den Umgang mit Fußballern

Mercedes Benz Junior Cup im Sindelfinger Glaspalast. Das bedeutendste Hallenturnier für U19 Junioren, direkt vor unserer Haustür. Klar waren die Schwabenballisten vor Ort, um auch den Nachwuchs von Rasenballsport Leipzig zu unterstützen. Die potenziellen Stars von morgen bereiteten Freude, allen voran der Nachwuchs des VfB und der TSG Hoffenheim, den baden-württembergischen Rivalen. RBL beendete das Turnier auf einem respektablen vierten Platz.

So schön das Sportliche anmutete, so störend waren manche Nebengeräusche. In meiner unmittelbaren Nähe hatten sich betrunkene junge Männer zwischen 16 und 20 mit offensichtlich niedrigem Bildungsstand eingefunden, die weder zur Unterstützung einer Mannschaft noch zum Genuss guten Jugendfußballs gekommen waren, sondern für fast jeden Beteiligten Beleidigungen parat hatten. Schalker Fans wurden beleidigt und teilweise tätlich angegangen (unter den Augen der nur sporadisch interessierten Ordnungskräfte), Dietmar Hopp wurde verunglimpft, die Spieler von Rasenballsport Leipzig sowieso. Haupthassobjekt war jedoch kein anwesender Spieler, sondern ein gewisser Timo Werner. Alle fünf Minuten wurde ein „Timo Werner ist ein H****sohn“ angestimmt.

Timo, dem in unserer Region noch viele zujubelten, als er den „Bruschtring“ trug und durch seinen Wechsel zum „Bösen“ in Ungnade fiel. Dank guter Leistungen verstummten zunächst viele Kritiker. Bis … ja bis zum 3.12.2016, als Timo Werner den Sündenfall der Saison beging und durch eine astreine Schwalbe bereits in Minute 1 einen Elfer schinden konnte. Anschließend brannte ein Sturm der Entrüstung durch Fußball-Deutschland, den ich in knapp 30 Jahren noch nie erlebt habe. Nicht bei Andy Möller, nicht bei Oliver Held, nicht bei Oliver Kahn Kung-Fu-Einlagen, erst recht nicht bei einer von Arjen Robbens allwöchentlichen Schwalben.

In der „Welt“ titelt Autor Tobias Holtkamp heute „Der Umgang mit Timo Werner ist entwürdigend“. Er hat recht. Timo Werner zu verteidigen heißt nicht, seine Schwalbe gutzuheißen oder seine Rechtfertigung im Interview nach dem Spiel. Aber man muss konstatieren, dass es in jeder Saison mindestens 10-20 glasklare Schwalben in den Strafräumen der Bundesliga gibt, die trotz des Fehlens jeglicher Berührung um einen Elfmeterpfiff betteln. Es war auch längst nicht die erste Schauspieleinlage eines RB-Spielers. Was also macht den Fall so besonders, dass Werner auch nach mehreren Wochen so oft verunglimpft wird, selbst bei der Dart-WM in London. Nein, der Beitrag soll nicht den Intelligenzquotienten dortiger Schlachtenbummler eruieren, die Gesänge gehässiger Zuschauer sind nur Folge des Problems, nicht dessen Kern.

Einer der Väter des Sturms der Entrüstung ist Kai Dittmann und das Moderatoren-Team von „Sky“. Dass Dittmann die Szene um den Elfmeter auseinandernahm, bewertete und Werners Aktion als Schwalbe brandmarkte, ist sein Job. In der Folge kam ich jedoch mit dem Zählen nicht hinterher, wie Dittmann bei laufendem Spiel vom aktuellen Geschehen abschweifte und die Schwalbe zurück ins Gespräch brachte, wobei die Schwalbe alleine im Laufe der Sendung eine Entwicklung von Unsportlichkeit über schlimmer Betrugsversuch und der Schwalbe des Jahres bis hin zur schlimmsten Schwalbe aller Zeiten durchmachte. Ich war schon während des Spiels genervt, dass das durchaus gute Spiel zweier formstarker Teams komplett in den Hintergrund rückte, während sich Dittmann immer mehr in Rage redete.

Nach dem Spiel war die Szene natürlich auch Thema in der knapp 60-minütigen Nachbetrachtung. Die Experten (Bruchhagen, Metzelder und Matthäus) waren sich schnell einig, dass eine Schwalbe vorlag und das ebenfalls unbestrittene Ziehen Naldos zuvor auf das spätere Fallen Werners sicher keinen Einfluss mehr hatte. Interessant die Interviews, als Schalke-Keeper Fährmann noch immer wütend war, nicht in erster Linie auf Schwalbenkönig Werner, sondern Schiedsrichter Dankert, der ihm Gelb gab, obwohl Werner zugegeben habe, nicht von Fährmann berührt, sondern von Naldo gezogen worden zu sein. Dies geben auch die Gesten im Fernsehbild wieder. Man hätte den interessanten Vorgang nach 15 Minuten spannender Diskussion bewenden sein lassen können.

Tat man jedoch nicht. Selbst als die Experten meinten „es gibt doch noch andere Dinge zu bereden als diese Schwalbe“ wollten die Sky-Moderatoren nicht vom Thema ablassen, anderen Szenen wurde keine Beachtung mehr geschenkt, nicht dem sehenswertens Ausgleichstreffer Schalkes, noch dem unglücklichen, aber verdienten 2:1 durch ein Schalker Eigentor, erst recht nicht sonstigen Chancen.

Dem guten Vorbild von Sky schlossen sich andere Medien an, das ZDF-Sportstudio versuchte sich ebenfalls in Superlativen, filetierte auch insbesondere diese Szene und blies den Fall weiter auf. Medial wurde angeführt von der Bild-Zeitung eine Hetzjagd auf Werner eröffnet. Auch vermeintliche Qualitätsmedien sprangen auf den Zug auf. Werner hätte sich auf dem Platz entschuldigen müssen, hätte den Elfmeter ablehnen müssen. Ethisch mit hohem Pathos wurde der Sportsgeist beschworen, Timo Werner zum Sünder.

Ja, auch mir machte die Schwalbe Bauchschmerzen, von uns Schwabenballisten konnte sich niemand so recht über das „Wie“ der Führung freuen. Aber man macht es sich eben sehr einfach, diesen Fall herauszugreifen und aufzubauschen, während man eine Woche vorher zusieht, wie Javi Martinez per absichtlichem Handspiel im Strafraum kurz vor Schluss den sicheren Ausgleich von Leverkusen verhindert und damit durchkommt oder eine Woche später Makoto Hasebe ebenfalls mit einer lupenreinen Schwalbe einen  – später nicht verwandelten – Elfmeter schindet. Beide Male kein Entrüstungssturm, sondern Vokabeln von „clever“ bis „Pech“, kein Wort von „Unsportlichkeit“ oder „Skandal“.

Dank Sky und Co. ist Timo Werner nun in weiten Kreisen der Inbegriff der Unsportlichkeit. Man ermutigt damit Gruppen, die ohnehin gegen RB (und andere) hetzen wollen, man gibt geistige Legitimierung für Hetze und Verfolgung. (Fast) niemand stand auf und sagte „Ist auch mal gut jetzt“. Die mediale Hetzjegd wird nicht dazu führen, dass Spieler weniger unsportlich agieren werden. Im Gegenteil: wir haben nun einen Prügelknaben, im Vergleich zu dessen Untat sämtliche künftige Vergehen als „relativ harmlos“ gemessen werden. Nicht weil die Werner-Schwalbe so einzigartig war, sondern weil sie so einzigartig aufgebauscht wurde. Ein Spieler ist nun Hassobjekt und wird zum Spießrutenlauf gezwungen.

Dieser Ansatz ist falsch. Im Johannes-Evangelium heißt es in Kap. 8, 1-11: „Wer von Euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein [auf sie]“. Übersetzt: wer noch nie von einer Schwalbe oder Unsportlichkeit profitiert hat, werfe den ersten Stein. Das ist keine Beliebigkeit oder Billigung, denn das Zitat endet mit den Worten: „Auch ich verurteile Dich nicht. Geh hin und sündige von nun an nicht mehr“.

Das wäre auch ein schönes Schlusswort. Aber für mich geht der Auftrag weiter. Es kann nicht sein, dass Vereine, Medien oder Veranstalter wahrnehmen, dass hier unverhältnismäßig auf eine Person eingeprügelt wird. Bei vielen Hetzern wird die Mahnung „Wer von Euch ohne Sünde ist“ kein Umdenken einleiten. Doch sehe ich uns alle in der Pflicht, dann nicht wegzuschauen, sondern einzugreifen.

Im Sindelfinger Glaspalast war es dem Sicherheitspersonal des Veranstalters, sprich der Daimler AG, egal, dass betrunkene Zuschauer pöbeln und gar übergriffig werden. „Worte wollen nichts bewegen, Worte tun niemandem weh, darum lass uns drüber schimpfen, Hasskommentare sind okay“, möchte ich einen Text der Ärzte leicht modifizieren. Ja, möchte ich sagen, solange, bis irgendwann Blut fliest. Und dann will es niemand gewesen sein.

Wacht endlich auf!