Driver Seat

„Doing alright,
a little driving on a Saturday night
and come what may
gonna dance the day away“
(Sniff ’n‘ the Tears)

„What ever happened to our love
I wish I understand
it used to be so nice
it used to be so good.
So when you’re near me darling
can’t you hear me S.O.S.?“
(ABBA)

Wir schreiben den 27.4.2021: Pressekonferenz von RB Leipzig. Der „Brauseclub“ ist noch Titelanwärter und Pokalfinalist. Seit einigen Wochen gibt es Unruhe, da Startrainer Julian Nagelsmann heftig vom Branchenprimus FC Bayern München umworben wird. An diesem Abend wird Nagelsmanns Abschied aus der Messestadt verkündet. Obwohl der Cheftrainer über ein noch weit über das Saisonende hinausgehend gültiges Arbeitspapier ohne Ausstiegsklausel verfügt, lässt RB-Chef Oliver Mintzlaff seinen Chefarchitekten ziehen, um ihm seinen „Lebenstraum“ in der bayrischen Metropole zu ermöglichen. Als guter Geschäftsmann handelt Mintzlaff eine Rekordablöse von kolportierten 25 Mio + X aus. Mintzlaff sieht seinen Verein im „Driver Seat“ und kündigt an, dass Nagelsmann beim Rekordmeister den heißen Atem von RB spüren werde.

Gut gebrüllt, Löwe … ääh Bulle. Was jedoch in den folgenden Monaten folgen sollte, spottet jeder Beschreibung. Erinnert sich noch jemand an den Kinofilm „Wie werde ich ihn los in 10 Tagen?“. Das Drehbuch wurde von den Rasenballsportlern plagiiert und als „Wie zerstöre ich ein Fußballteam in 6 Monaten?“ nach Fußball-Deutschland verlegt. Die Hauptrolle fällt Jesse Marsch zu, Nagelsmanns Nachfolger. Doch letztlich ist der überforderte US-Amerikaner nur Teil des Systemversagens. Eine Chronologie des Schreckens:

RB Leipzig eilt gemeinhin der Ruf voraus, der Aufstieg von der NOFV-Oberliga Süd in die Champions-League sei auf Grund des „Finanzdopings“ ein Selbstläufer gewesen. Was für die unteren Ligen in gewisser Weise kaum in Abrede gestellt werden kann, greift spätestens ab Liga 2 zu kurz, erst recht in der Bundesliga, wo viele finanzstarke Teams um die Plätze hinter dem schier unerreichbaren FC Bayern ringen. Beispiele wie der HSV, Schalke und Hertha BSC zeigen eindrucksvoll, dass Geld alleine keine Tore schießt. Im Gegenteil: man kann viel Geld hervorragend in den Sand setzen. Als Fans des einzig wahren Rasenballsports beweihräucherten wir uns damit, dass seit dem Amtsantritt Ralf Rangnicks im Jahre 2012 die wirtschaftlichen Mittel klug und strategisch richtig eingesetzt wurden, der Verein sportökonomisch gut aufgestellt wurde, mit klarem Plan und bestückt mit Profis, die für ihr jeweiliges Gebiet zuständig sind. Als „Mann der Finanzen“ formte Oliver Mintzlaff ein auch formell konkurrenzfähiges Fußballunternehmen, während Ralf Rangnick den sportlichen Bereich formte und das Team bei wenig Rückschlägen stetig fortentwickelte.

Ralf Rangnick übernahm auch den Trainerposten, als es notwendig war, führte RB zum Bundesligaaufstieg und überbrückte den Übergang von Ralph Hasenhüttl zu Julian Nagelsmann. Rangnick merkte, dass RB neuen Input zur Weiterentwicklung brauchte und war bereit, sich selbst zurück- bzw. herauszunehmen, um dem potenziellen Startrainer Nagelsmann den Raum zur Entfaltung zu lassen. „Stillstand ist Rückschritt“, wusste Rangnick und trat erst ins zweite Glied, dann komplett von der Bildfläche im RB-Kosmos.

Julian Nagelsmann bearbeitete das gut bestellte Feld und entwickelte in einem über weite Strecken gut moderierten „Evolutionsprozess“ RBL zu einem Team, das auch gegen tief stehende Gegner dominanten „Spitzenteamfußball“ zu spielen vermochte, dem Team gelangen regelmäßig spielerische Lösungen dank der Akribie des Trainers und der guten Fortentwicklung des Kaders mit spielstarken Offensivspielern. Was Nagelsmann zum großen Wurf fehlte, war ein echter „Knipser“ in der Sturmspitze.

Der sportliche Erfolg unter Nagelsmann überdeckte allerdings, dass das Vakuum nach Rangnick auf der Sportdirektoren-Position nie adäquat geschlossen werden konnte. Der aus Paderborn gelotste Markus Krösche konnte nie das Gewicht eines Rangnick in „Verein“ und „Red Bull-Kosmos“ entfalten, Oliver Mintzlaff wurde in der Nach-Rangnick-Ära auch sportlich zum starken Mann, dem Krösche aus klar untergeordneter Position zuarbeiten sollte. Schon im zweiten Jahr suchte Krösche den Ausstieg und dachte sogar über eine Offerte von Schalke nach, nachdem er durch die Verpflichtung des Kaderplaners Christopher Vivell seine Position weiter beschnitten sah. In dieses sportliche Vakuum fiel dann der Wechselwunsch des Cheftrainers.

„Reisende soll man nicht aufhalten“, lautet ein Sprichwort. Es ist müßig, ob Nagelsmann mit einem „Nein“ aus der Chefetage eine weitere Saison bei RBL ohne Murren abgespult hätte, wie es Ralf Rangnick bei „DAZN“ mutmaßte. Es fehlte ob des hinterlegten Wechselwunsches ein „Plan B“. Oliver Mintzlaff hatte seinen Wunschnachfolger bereits im Petto: Jesse Marsch, aufgebaut im Red Bull-Konzern, erfolgreich als Cheftrainer der NY Red Bulls in der MLS, dann Co-Trainer Rangnicks bei RBL und schließlich zwei Jahre lang Chefcoach von Red Bull Salzburg, dort formell auch erfolgreich. Auf dem Reißbrett eine nachvollziehbare Lösung, die allerdings schon im Frühjahr einem tiefergehendem Blick nicht standhielt: in Salzburg gab es insbesondere im zweiten Jahr kaum Weiterentwicklung, das Team entwickelte insbesondere defensiv Schwächen, taktisch war das Team ausrechenbar. Für die schwache österreichische Liga ausreichend, aber nicht für das internationale Niveau.

Marsch wurde als Wunschlösung in Leipzig vorgestellt, mit hinreichend Stallgeruch, ein Trainer, der die Herzen der Fans erobern kann, dessen Lebenstraum der Job beim deutschen RB-Ableger war. Entsprechend groß auch die Euphorie im Umfeld nach einem Trainer, der im Gegensatz zum unnahbaren Nagelsmann nah am Fan und mit hinreichend Emotionen ausgestattet ist. Bei mir kam indessen wenig Euphorie auf, die zu erwartende taktische Ausrichtung war für mich ein Rückschritt.

Die Stelle als Sportdirektor sollte im Sommer besetzt werden, das Funktionsteam Nagelsmann sollte in Leipzig bleiben, so war es geplant. Es sollte anders kommen: Nagelsmann charterte den sprichwörtlichen „T6“, nahm Toppmöller & Co. mit. Stattdessen wurde als Verlegenheitslösung Achim Beierlorzer zurück zu RBL geholt und mit Marco Kurth ein U19-Coach zu den Profis befördert. Kurzum: keine Einflüsse von außen, kein taktisches Masterbrain wie Rene Maric bei Marco Rose, kein Mentaltrainer, insgesamt ein ausgedünntes Funktionsteam.

Der Auftakt in die Saison verlief entsprechend holprig. Marsch versuchte das Team nach seinen Vorstellungen umzubauen und die „RB-DNA“ (oder was man für sie hielt) Knall auf Fall zu implementieren. Dabei nahm er kaum Rücksicht auf die Vorstellungen und Stärken der Spieler, Verpflichtungen wie André Silva oder Ilaix Moriba passten kaum zum propagierten Überfallfußball. Marsch wollte mit dem Kopf durch die Wand und stellte sich auch neben dem Platz wenig clever an: missverständliche Äußerungen zu den Saisonzielen, taktische Unterkomplexität in den Pressekonferenzen (und mutmaßlich auch gegenüber dem Team). Die Krone setzte die unnötige Demütigung Brobbeys mit einer unnötigen Auswechslung 2 Minuten vor dem Pausentee auf, die selbst Marsch bislang wohlgesonnene Beobachter und Fans gegen ihn aufbrachte.

Es gibt wahrlich viele Gründe Marsch von der Bürde seiner Aufgabe zu erlösen. Das Kernproblem liegt jedoch tiefer, ein bloßer Trainerwechsel löst das Problem nicht. Die Leitungsstrukturen bei den Rasenballsportlern müssen wieder professionalisiert werden nach dem Vorbild „Schuster bleib bei Deinen Leisten“, d.h. Oliver Mintzlaff muss sich auf den kaufmännischen und koordinierenden Teil zurückziehen und einen sportlichen Leiter von einem Spitzenteam würdigen Format neben sich installieren (und Raum geben). Um den neu zu gewinnenden Cheftrainer muss ein Funktionsteam aufgebaut werden, das der Komplexität der Anforderungen eines Champions-League-Teams gewachsen ist, auf die aktuell unzufriedenen Spieler muss schnell zugegangen werden, um Perspektiven aufzuzeigen und die Erosionsprozesse innerhalb der Mannschaft zu stoppen.

Die Hoffnung, dass Oliver Mintzlaff diesen Handlungsdruck erkennt, schwindet stetig, sodass das Gros der RB-Fans auf das sehnlichst wartet, was Kritiker stets herbeigeredet haben: ein Machtwort aus der Konzernzentrale des „Sugar Daddys“ in Fuschl am See. Aufzubauen ist zäher und langwieriger als der Absturz. Die Uhr tickt und macht mit jedem verstrichenen Tag den Weg zurück zur Spitze ein wenig schwieriger.

„We got to look back and see and learn from the past,
we got time to change it, but it’s running out fast“
(East 17)

Wir sollten uns eingestehen, dass wir vielleicht den Schlüssel zum Auto hatten, uns aber nie in den „Driver’s Seat“ gesetzt haben. Es wäre an der Zeit sich einzugestehen, dass wir falsch abgebogen sind und die Fehler zu korrigieren, solange das noch möglich ist. Nutzen wir die Zeit, um nicht im Sommer gemeinsam Tränen zu vergießen, dass wir Idole wie Emil Forsberg & Co. vergrault haben. Vorwärts Rasenball – Leipzig überall.

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