Sébastien Thill – ein neuer Sheriff im „San Bernabéu“

„I shot the Sheriff“, sang schon Bob Marley vor knapp 50 Jahren. Ein Song, der aktuell Hochkonjunktur erlebt auf Grund des kometenhaften Aufstieges des moldauischen Serienmeisters Sheriff Tiraspol in die Fußball-Champions-League. Nach standesgemäßen Siegen über die Meister aus Albanien (Teuta Durres) und Armenien (FC Alashkert) schaltete das Team aus der abtrünnigen Provinz Transnistrien, einem De-facto-Staat aus einem schmalen Streifen entlang der Grenze zur Ukraine, in dem die Sowjetunion wie in einem Freilichtmuseum fortzubestehen scheint, erst den serbischen Titelträger Roter Stern Belgrad und dann den kroatischen Meister Dinamo Zagreb (Ex-Club von Dani Olmo und Josko Gvardiol) in beeindruckender Manier aus.

Die Geschichte von Sheriff mit all ihren Besonderheiten wäre alleine schon erzählenswert. Es ist keine amerikanische Heldengeschichte, Transnistrien kein sowjetisches Disneyland, das Land ist arm und von Korruption gebeutelt. Das Unternehmen Sheriff, Anfang der 90er von ehemaligen Polizisten gegründet und vom Sicherheitsunternehmen zum Universalkonzern aufgestiegen, erwirtschaftet heute 60 % des transnistrischen Bruttoinlandsproduktes. Dass sich das Team sportlich in Europas Elite mit vergleichsweise bescheidenen Mitteln behauptet, ist dennoch höchst beachtlich. Vorläufiger Höhepunkt ist der 2:1-Auswärtssieg im berühmten Estadio Santiago Bernabéu beim spanischen Rekordmeister Real Madrid.

Das Siegtor schoss in der 90. Minute Sébastien Thill mit einem fulminanten Dropkick aus 20m in den Winkel vorbei am chancenlosen Weltklassetorhüter Thibaut Courtois. Es ist auch der vorläufige Höhepunkt in einer mehr als ungewöhnlichen Spielerkarriere des 27-jährigen Luxemburgers, der durch manches Tal gehen musste, ehe er zu einem Spieler reifen konnte, der in der ersten Reihe des europäischen Clubfußballs Fuß fassen konnte. Eine Geschichte, die erzählt werden muss.

Sébastien Thill ist der älteste Sohn des heute 52-jährigen luxemburgischen Ex-Nationalspielers Serge Thill, der es auf nationaler Ebene in den 90er-Jahren zu einigen Meriten brachte, unter anderem einem Meistertitel mit Union Luxemburg. Groß wurde Spross Sébastien – kurz „Cba“ – in der Jugend des Traditionsvereins Progrès Niederkorn, meinem Herzensverein. Mit 15 folgte der Wechsel zum Nachbarn CS Petingen, wo er in der zweiten Liga im Seniorenbereich debütierte, ehe er 2012 zurück nach Niederkorn wechselte. Am 22.9.2013 sah ich „Cba“ zum ersten Mal live beim Differdinger-Derby, das der Progrès auch dank eines sehr gut aufgelegten Youngster Sébastien Thill auf dem linken Flügel mit 2:1 gewann.

Thill entwickelte sich zu einem der vielversprechendsten luxemburgischen Spieler in der BGL-League und bestach mit außergewöhnlicher (Schuss-)Technik, insbesondere mit einem Faible für Chip-Pässe und Distanzschüsse. 2015 trug Thill dazu bei, dass sich Niederkorn nach über 30 Jahren erstmals wieder für den Europapokal qualifizieren konnte, er stieg zum Kapitän auf und wurde von Nationaltrainer Luc Holtz erstmals in die Nationalmannschaft berufen. Sein Debüt am 5.9.2015 krönte er in der Schlussminute mit dem 1:0-Siegtreffer in der Nachspielzeit gegen Mazedonien.

Auf nationaler Ebene hatte sich der inzwischen 21-Jährige zu einem Leistungsträger entwickelt, der Schritt zum Profifußballer schien dennoch nicht vorgezeichnet. Das Niveau der nationalen Liga ist im internationalen Vergleich überschaubar und zu Thills Talent gesellten sich Zweifel an seinem Trainingseifer und seiner Einstellung, zumindest schien er mit dem erreichten Level zufrieden. Es folgten zunächst keine weiteren Einsätze im Nationalteam, das auf eine wachsende Zahl an im Ausland spielenden Luxemburgern zählen konnte.

2017 konnte sich Thill mit Progrès Niederkorn erneut für den Europapokal qualifizieren dank Platz 4 in der nationalen Liga. Mit den Glasgow Rangers, dem schottischen Rekordmeister, der nach Insolvenz und Rückstufung in Liga 4 im Jahr 2012. Nachdem 2016 die Rückkehr in die erste Liga gelang, qualifizierten sich die Rangers im Folgejahr als dritter der schottischen Liga für Europa und feierten ausgerechnet in Luxemburg ihr langersehntes Comeback auf europäischer Ebene. Das Hinspiel gewannen die Rangers mit 1:0, das Team um Kapitän Sébastien Thill schlug sich im ehrwürdigen Ibrox Stadium wacker. Das Rückspiel fand am 4.7.2017 im Stade Josy Barthel in Luxemburg statt und angeführt von Thill glaubten die Luxemburger an ihre Chance. Nach torloser erster Halbzeit legte Sébastiens jüngerer Bruder Olivier Thill für Emanuel Francoise auf, der mit dem 1:0 das Hinspielergebnis egalisierte. Eine Viertelstunde vor Schluss trat dann Sébastien Thill zum Freistoß aus knapp 30 Metern halbrechter Position an. Thill schoss den Ball scharf auf das lange Eck, wo der Ball an Freund, Feind und Torhüter Wes Foderingham vorbei zum 2:0 ins Tor segelte. Mit etwas Aluminiumglück in der Schlussminute sollte es der Siegtreffer einer Fußballsensation bleiben, der Fußballzwerg aus Luxemburg eliminierte den schottischen Rekordmeister vor den Augen konsternierter Rangers-Fans aus ganz Europa, während Sébastien Thill auf den Zaun der Niederkorner Fankurve kletterte und mit Pyrotechnik den größten Sieg der knapp 100-jährigen Vereinsgeschichte feierte.

Doch neben dem sportlichen Erfolg brauen sich auch dunkle Wolken zusammen. Wenige Wochen später verursacht er stark alkoholisiert nach einer Feier im Nachgang zu einem Testspiel einen Verkehrsunfall und muss sich vor Gericht verantworten. Ein Vorfall, der seinen weiteren Karriereambitionen einen heftigen Dämpfer versetzt. Während Sébastien als Enfant terrible gilt, entwickelt sich Bruder Olivier zum Vorzeigefußballer, der mit guter Ernährung und hartem Training zum Musterprofi avanciert. Nach Platz in der Liga, dem besten Abschneiden seit fast 40 Jahren, und einem Europapokal-Run bis in Runde drei, wo nur äußerst unglücklich gegen den russischen Erstligisten Ufa Schluss ist, erfüllt sich für Olivier hier der Traum von der Profikarriere. Für die Rekordablöse der BGL-League wechselt er nach Ufa und ist inzwischen als Leistungsträger beim ukrainischen Spitzenteam Worskla Poltawa angekommen.

Für Sébastien Thill ist es ein Fingerzeig, was möglich ist. Im Herbst 2020 bietet sich die Chance beim russischen Erstligisten FK Tambov mit 26 Jahren doch noch Profi zu werden. Nach Olivier Thill, Tim Hall, Marvin Martins und Alex Karapetian ist er der nächste in der Reihe der in Niederkorn gerformten Profis. Zum Jahresbeginn 2021 verschlägt es Thill dann weiter zu Sheriff Tiraspol, wo er nach Gerson Rodrigues der zweite Luxemburger wird und unter Trainer Yuri Vernydub aufblüht und zum Stammspieler im zentralen Mittelfeld avanciert.

Innerhalb von knapp einem Jahr hat es Thill vom Halbprofi aus Luxemburg zum Torschützen in der Champions-League geschafft. „Cba“ ist erwachsen geworden und hat sich trotzdem seine spielerische Magie bewahrt. Ein entscheidendes Tor zur CL-Gruppenphase bereitete er per Chip-Pass vor, gleichzeitig ist aus ihm ein taktisch kluger und im Zweikampf bissiger Spieler geworden.

Es ist eine Geschichte davon, was im Fußball möglich ist und unterstreicht, dass nicht die glatten Heldenstorys die schönsten sind, sondern wahre Helden lange und steinige Wege gehen müssen, um dafür umso schöner am Ziel anzukommen. So steht „Cba“ für all das, was unseren Fußball so schön macht.